Nathaniels Seele (German Edition) by Strauß Britta

Nathaniels Seele (German Edition) by Strauß Britta

Autor:Strauß, Britta [Strauß, Britta]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
Herausgeber: Bookwire GmbH
veröffentlicht: 2011-05-11T22:00:00+00:00


„Da!“ Mario blaffte das Wort so lautstark, dass Jorge warnend den Finger auf seinen Mund legte. „Das sieht doch nach was aus“, fügte er leiser hinzu. „Was meinst du? Das ist es. Oder nicht?“

Der Strahl der Taschenlampe huschte über eine Anhäufung aus Steinen. Verborgen zwischen drei mächtigen Felsen, von deren Moosvorhängen Wasser tropfte, bildeten sie eine Pyramide. Mario deutete auf eine Art Traumfänger, der am Ast der Felsgebirgstanne baumelte, flankiert von zwei Bündeln getrocknetem Tabak. Auf den Steinen lag ein Sammelsurium an folkloristischem Ramsch. Angefangen von Federn über ein Skunkfell bis zu üppig geschmückten Rasseln und Totemfiguren. An einem Stock, der sich über das Grab neigte, baumelte ein lederner, fransenbesetzter Beutel.

„Das ist es. Scheiße, das ist es.“ Mario stieß einen Seufzer aus, in dem sich Erleichterung und Misstrauen vereinten. Nach einem anstrengenden Abstieg, der sie über glitschige Felsen und von Geröll übersäte Abhänge geführt hatte, wagte er es kaum, sich an diese Hoffnung zu klammern. Ihre Hände und Knie waren blutig, ihre Hosen zerrissen. Ein tiefer Riss prangte auf seiner Wange, während Jorge bei jedem Schritt unterdrückt jammerte. Die Wurzel, an der sein Bruder sich hatte festklammern wollen, war leider eine Spur zu morsch gewesen. Und so war er zwar sehr viel schneller als Mario hier unten gelandet, allerdings auch ramponierter.

„Das will ich hoffen.“ knurrte Jorge. „Ich habe langsam die Nase voll. Aber so was von.“

„Das ist es. Verlass dich drauf.“ Mario kam seine Großmutter in den Sinn, deren Aberglauben ihn durch Kindheit und Jugend begleitet hatte. Etwas Urtümliches umgab diesen Ort, dessen Finsternis nicht in der Dunkelheit begründet lag. Über den nassen, steinigen Boden der Schlucht krochen Finger aus Nebel. Das Stakkato fallender Tropfen durchdrang eine gähnende Stille, die über allem lag und den Eindruck erweckte, als wäre sie im Laufe der Jahrhunderte zu lähmender Schwere konzentriert worden. Nässe glänzte auf Tannennadeln, Überhängen aus Moos und schroffem Fels. Kein Windhauch ging. Ein Leichentuch aus Tod, Moder und Geheimnis lag über diesem Ort. Seine Großmutter wäre an diesem Ort vermutlich sämtliche ihr bekannten Gebete losgeworden. Und sie hätte, kaum diesem Ort entronnen, schaurige, poetische Geschichten erzählt, die einem das Herz in die Hose rutschen ließen.

„Los“, zischte Mario und legte seinen Rucksack ab. „Hilf mir.“

Jorge ging neben ihm in die Knie. Gemeinsam trugen sie Stein für Stein ab, stets mit dem Gefühl einer boshaften Präsenz im Nacken, hervorgerufen durch die Stille, den Nebel und das Bewusstsein, die Ruhe eines Toten zu stören.

„Es muss hier drin sein“, flüsterte Mario, packte mit beiden Händen einen glitschigen Brocken und hievte ihn beiseite. „Das Grab sieht aus, als hätte sich ewig keiner mehr daran zu schaffen gemacht.“

„Schön wär’s“, sagte Jorge. Er nahm eine Feder auf und betrachtete sie. Ihr Kiel war mit Lederbändchen und Perlenschnüren verziert. „Aber es ist nicht richtig, was wir tun.“

„Nein“, bestätigte Mario zerknirscht. „Aber du weißt, was uns blüht, wenn wir versagen. Wir müssen das durchziehen.“

„Denkst du wirklich, dass er …“ Jorge berührte mit der Feder seine Lippen. „Denkst du, dass er unseren Familien zu Leibe rückt?“

„Er ist Anwalt“, gab Mario zu bedenken und wuchtete einen weiteren Stein weg.



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